„Und, was kommt da so zusammen an Kilometern?“

Der neue Chef lehnt im Türrahmen. Rosa-lila-kariertes Hemd, kann jetzt auch nicht jeder tragen. Die Frisur sitzt. Er wirkt so zielstrebig. Ich dagegen habe mal wieder den Friseurtermin verbaselt. Haare stehen in alle Richtungen. Aber ich habe zu fahren, in jeder freien Minute. Der soziale Autismus hat eingesetzt. Frühjahr halt.

„Ach“, sage ich, Blick schweift nebensächlich über die Papiere, „so 170.“

„??!!!!?!?!???!!“

Es ist albern, ich weiß. Aber manchmal liebe ich diesen Sport mit wilder Ausgelassenheit.

Und dann auch wieder nicht. Montag erst bin ich dem neuen Chef auf die Nerven gegangen mit schlechter Laune. Mir selbst auch. Wusste erst später, warum. Normalerweise ist Sonntags lange fahren, dann hält die Stimmung bis Dienstag Mittag. Samstag war aber nun RTF, da hielt die Stimmung ziemlich genau bis Montag, 14 Uhr.

Diese chemischen Zusammenhänge sind erschreckend. Andreas Niedrig ist dieser Triathlet, der sich zu einer ehemaligen Heroin-Abhängigkeit bekennt. Und der sagte, dieser Sport verhelfe ihn zu einem Kick, der von der Droge nicht so weit entfernt ist. Inzwischen ist er als Coach für die Techniker Kasse tätig. Ist auch ein Statement.

Jedenfalls gut, dass Donnerstag schon wieder Feiertag ist, denn Dienstag Abend kurz fahren reicht auch nur so bis Mittwoch.

Es geht also nach Meseberg an Himmelfahrt. An dem Tag, den viele Menschen nutzen, um sich mit Alkohol das Wohlgefühl abzuholen, das bei anderen auf dem Rad entsteht. M. wollte der Tour den Anschein von etwas kulturpolitischem Interesse einhauchen, statt neutrale Kilometer zu sammeln.

Wir planen Komoot-Highlight-Hopping in den Norden und zurück. Zug sparen wir uns. Vatertag. Ich will keinen Pfeffi angeboten bekommen. Auf den Radwegen wird es schon genug Stress geben.

Über den Schiffsbauerdamm geht es raus, ewig bin ich hier nicht gefahren, früher ab und an mit dem Mountainbike, in Rock und Schlappen, ging auch. Kick holen, egal wie.

M. fragt sich, wo die Bollerwagen bleiben. Es ist aber erst 10 Uhr. Zwanzig Minuten später kommt uns der erste entgegen.

Henningsdorf, Oranienburg, immer am Havelkanal entlang. Fliegen knallen auf meine Oberlippe. Bin froh, dass ich den Mund zu habe.

„Hundedepression“ heißt ein Abzweig. „Hundepension“ lese ich erst beim zweiten Hinschauen.

Die andere Seite des Wohlgefühls. Ohne Licht kein Schatten, ohne Schatten aber auch kein Licht. Tyler Hamilton litt im Herbst nach seinen erfolgreichsten Rennen unter Depressionen. David Millar berichtet in seiner Biographie von Alkoholexzessen abseits der Saison. Frank Vandenbroucke, José Maria Jiménez, Graeme Obree, alle mit Depressionen assoziiert, um nur einige zu nennen.

In der Suche nach einem Zusammenhang wird ja allem voran Doping verantwortlich gemacht, oder der Druck der Medien, die böse UCI, erfolgskalte Teamstrukturen. Mir fehlt die Diskussion über einen vernünftigen Umgang mit den selbst produzierten Hormonen. Nicht darüber, was sie auf dem Rad bewirken können. Sondern was passiert, wenn sie ausbleiben.

Eine klinische Depression ist sicher nicht mit einer Stimmungsschwankung in einen Topf zu werfen. Aber wenn selbst ein kleiner Hobbyradfahrer nach ein paar Tagen ohne Rad trübe wird, was richtet das bei Menschen an, die sich das Hochgefühl in ganz anderen Dosen zuführen?

Zumindest für den Jedermann ist mir noch keine vernünftige Hilfestellung begegnet. Einschlägige Magazine und Websites bieten Trainingspläne, Ernährungsschlaubergerei, Mental-Zeug, technische Evolution. Wie hält die Form über den Winter. Wie holst du beim nächsten Rennen alles raus. Stets dreht es sich um ein Optimieren, ein besseres Bestehen, Verzeihung, Performance am Tag X.

Was ist mit Tag Y oder Z, wenn der Höhepunkt vorbei ist, wer kümmert sich darum? Was ist nach der Saison? Nach dem einen großen Event, auf das alles hin lief? Oder bei verletzungsbedingtem Ausfall? Wer gibt hierfür eine Anleitung?

Am heutigen Tag X kümmert es zugegebenermaßen nicht. Alles da, um den Pegel hoch zu halten. Für M. vielleicht nicht ganz, der wünscht sich eine Haxe und bekommt sie nicht. Bei 21 Grad, also bitte. Körpereigenes Glück muss reichen.

Stattdessen das erste Mal Stickados im Brötchen. Das erste Mal Beinlinge aus. Die Rapsfelder hüfthoch. Der Tag hört auf den Namen Sommer.

Von Löwenberg bis Gransee herrscht himmlische Ruhe. Schloß Meseberg hatte tags zuvor hohen Besuch und liegt nun verschlafen da. Die Gegend hier oben, an anderer Stelle unter dem Titel „Die Uckermark – das Long Island der Berliner“ sehr schön skizziert, entführt aus Alltag und Gedanken.

Rückweg über Zehdenick, den Voss-Kanal entlang, meistens einsam, heute sind da ein paar unterwegs, aber es geht. Ein verpasster Abzweig bei Kreuzbruch führt uns über eine verschlagene Sandpiste im Wald, nicht anhalten! nicht anhalten!, dann gehen das Verago und ich doch baden, aber nur blaue Flecken.

Radlerhorden jeden Alters, Ausstattung und Alkoholpegels bei Oranienburg.

Der erste Eiskaffee zum Abschluss. Das erste Mal Farbkante auf den Armen.

Abends bin ich zum Theater verabredet. Ich wollte es ja nicht mehr so übertreiben, mit dem sozialen Autismus in der Saison und Verabredungen nur in den Ruhewochen, alles auf die Droge ausgerichtet. Wobei, praktisch ist das schon.

Start ist um 21.15 Uhr. Die Haare sind irgendwie gebändigt. Jetzt nur nicht einschlafen.

Tour zum Nachfahren

Den Titel habe ich mir von Selim Özdogans Buch „Nirgendwo & Hormone“ abgeschaut, das ich nicht gelesen habe, im Gegensatz zu David Millars Biographie „Racing Through The Dark“ und Tyler Hamiltons „The Secret Race“, aus denen ich obenstehende Informationen zu Depressionen und Alkoholmissbrauch entnahm. Während Andreas Niedrig den besagten Vergleich in dem Film „It’s all about…“ zog.