Wir verlassen das Kieselstein-gepflasterte Labyrinth der Altstadt von Alghero, Startort des diesjährigen Giro d’Italia, wie ich inzwischen gelernt habe, und nehmen die Küstenstraße nach Bosa. “Ab jetzt auf Schnitt”, ruft M., und wir heizen los, bis uns nach etwa 50 Metern der erste Anstieg bremst, die Tageshöhenmeter liegen ja noch vor uns.

Die Straße führt mal fast hinunter ans Wasser, dann wieder bis auf 400 Meter. Großartige Aussicht aus allen Blickwinkeln, wilde Steilküste, unterbrochen von kleinen Sandbuchten, hier ist nichts zugebaut. Vielleicht liegt es daran, dass wir schon wieder den Weg für uns haben. Und den Wind. Kurbeln, rollen, kurbeln, nächste Bucht, Ausblick auf die Straße über uns, zu weit weg, um da schnell mal hoch zu sprinten.

Irgendwann bin ich leer, die obligatorischen Dolci reichen einfach nicht so weit. Der Notriegel riecht nach Kokos und Sommerurlaub, ist es ja auch, irgendwie. Er reicht nicht, da ist heute nicht mehr viel los bei mir. In der linken Wade zieht es auch. Nicht darüber sprechen, dann geht das schon vorbei. Vielleicht ist der Sattel doch einen Tick zu hoch?

40 Kilometer sind doch zu machen. Wir schieben uns so dahin. Divieto di caccia, heißt es rechts und links der Straße, das beschäftigt mich für einige Zeit, caccia, caccia, was mag es heißen. Blick auf die Wolken, die sich langsam vor uns aufbauschen.

Erst in der letzten Abfahrt beginnt es zu schütten, aber es ist nicht kalt, und das Städtchen Bosa sehen wir schon unter uns. Ein Hotel diesmal, das “Sa Pischedda”, ein Efeu-umrankter Kasten am Ufer des Temo. Die Räder werden mit hereingebeten, über den Marmorboden damit und hinter dem Fahrstuhl abgestellt. Immer wieder erstaunt es mich, wie unkompliziert bei Touren im italienischen Sprachraum („Sardegna non e Italia“, hat ein Graffiti unterwegs an die ewige Auseinandersetzung erinnert) die Unterbringung der Rädern gehandhabt wird.

Der Hunger ist riesengroß, ich will am liebsten noch vor dem Abendessen Eis, Kuchen, was auch immer. Ein halbes Kilo Kekse wandert in den Rucksack, morgen auf der Königsetappe zusätzliches Gewicht, aber egal, sicher ist sicher.

Um 7 Uhr Frühstück, wir wollen zeitig los. Durch das Landesinnere geht es nordostwärts Richtung Oschiri. Über 2.000 Höhenmeter, ein paar Hundert haben wir spontan ausgeplant. Eigentlich ist es ja wichtig, alles Geplante mitzunehmen, aber das Ziehen in meiner Wade ist hartnäckig, und M. schmerzt der Rücken. Und irgendwann in den vergangenen Tagen habe ich ihm von alten Urlaubsfotos erzählt, die ich kürzlich entdeckte. Wie glücklich wir auf den Fotos aussahen. Kein Wunder, erwiderte M., damals haben wir ja auch noch Urlaub gemacht, und keinen Hochleistungssport! Das hatte mir doch etwas zu denken gegeben.

Im strahlenden Sonnenschein nehmen wir den ersten Anstieg, auf die Hochebene Campeda und in das Städtchen Macomér, über mehrere Stufen führt sie uns auf über 1.000 Meter.

Ich habe mir für die beiden letzten Tage nicht mehr viel erwartet; was kann schon schöner sein als am Meer entlang zu fahren?

Ich werde eines Besseren belehrt.

Winzige Sträßlein schwingen sich durch ein wildes Land. Struppige, verknorzelte Kork- und Steineichen, flach gedrückt im Wind. Die Luft klar und erfrischend. Niedrige Trockensteinmauern. Eine Schafherde verstopft die Straße.

Und hier schließlich, nachdem ich in den letzten Tagen doch ab und an unwillkürlich Vergleiche mit Sizilien angestellt habe, hier gewinnt mich Sardinien endgültig für sich.

Stundenlang radeln wir vor uns hin, kaum eine Menschenseele, nur das Rauschen des Windes, das Klackern meines Freilaufes, das mich daran ermahnt, immer flüssig zu treten. “Spaghettiwestern-Landschaft”, sagt M. Ich kann nicht genug davon bekommen. Immer noch ein Übergang zu einem weiteren Hochtal, der Weg schwingt sanft dahin, ist nie zu steil zum Hochrollen und immer dankbar beim Abfahren.

Wir erreichen Oschiri am späten Nachmittag, aus der Ferne sieht der Ort wenig einladend aus.

Aber Sardinien, erfahren wir auch hier, offenbart sich nicht auf den ersten Blick.

Campari in der Sonne. Die ortsansässige Trattoria serviert für ein paar Groschen die köstlichsten Spaghetti al raghu, zusammen mit köstlichen italienischen Schlagern. Unsere Wirtin für den Abend bedeutet uns nach einem Blick auf unser Basislager, wir sollten unsere Sachen in den Schrank räumen, und weil in unserem Zimmer ein Porträt hängt, das sie als junge Frau mit Gewehr im Schoß zeigt, gehorchen wir lieber. Der Geldschein, den wir ihr überreichen, wandert unters Tischtuch. Und auch hier verbringen wir, nachdem sich ein italienischer Disput irgendwo im Haus gelegt hat, eine unendlich ruhige Nacht.

Der letzte Tag. Die Wade hat inzwischen zugemacht, so stelle ich mir „Zumachen“ zumindest vor. Tut einfach immer mehr weh, während wir gegen den Wind, aber teilweise vom Hang geschützt, die letzten Höhenmeter in Angriff nehmen.

Einmal noch geht es hoch auf 800 Meter. Der Ort Pattada thront ausgesetzt auf dem Gipfel, ich werde fast von der Straße geweht, bevor wir zwischen die schützenden Häuser schlüpfen können. Sämtliche Herren der Umgebung scheinen sich vor der Kirche versammelt zu haben, dabei ist Mittwoch. Sie starren uns an. Erst nach und nach wird mir bewusst, dass es daran liegen mag, dass wir mit kurzen Hosen in den Morgen gestartet sind, während sie sich ausnahmslos in dicke Jacken eingemummelt haben.

Der liebgewonnene zweite Cappuccino, und abwärts. Wir sind beide froh, so richtig viel Saft ist da nicht mehr, trotz Schinkenbaguette hier und ein paar Keksen dort. Wie der Ex-Kollege A. gern sagt: Auch hundert Kilometer täglich schlauchen mit der Zeit. Eigentlich Humbug, aber nun. Irgendwie lungern wie die restliche Strecke entlang.

30 Kilometer vor Olbia ist es mit der Ruhe auf den Straßen allmählich vorbei; noch immer sind da wenige Autos, aber sie passieren uns dicht und hektisch. Als wir schließlich am Flughafen von Olbia entlang trudeln, kommt es mir vor, als sei es Wochen her, dass wir dort aufgebrochen sind, so voll ist der Kopf mit den Bildern und Gedanken aus langen Stunden des stillen Fahrens.

Und dann stehen wir schon inmitten der Altstadt vor unserer Behausung für die letzte Nacht. Ich streichle bedauernd das Oberrohr meines Canyon Endurace, M. macht ein Bild von uns. Dass man ein Rad so schnell ins Herz schließt.

Unser Wirt hat ein Flasche sardisches Bier, Ichnusa, kalt gestellt, mit dem wir auf die Tour anstoßen, bevor wir ein letztes Mal zu Eis, Antipasti und köstlichen Nudeln aufbrechen.

Daheim finde ich in meinem Rucksack den Kronkorken mit dem sardischen Wappen. Kann man noch mal hin, denke ich. Und dann schaue ich nach, was caccia heißt.

Komoot:

Die Räder hatten wir bei SardiniaCycling geliehen.

Alle Unterkünfte (ein Hotel, vier B&Bs) hatten wir online gebucht, die Kosten lagen inklusive Frühstück pro Nacht zwischen 45 und 65 Euro für zwei.