Am Morgen stehe ich vor verschlossener Zimmertür und kann nicht hinaus. Ein paar verschlafene Minuten lang denke ich, die Hitze hat den dicken Lack aufgeweicht und alles zusammen gepappt. Leichte Panik, Blick aus dem Fenster im ersten Stock, komme ich da raus? Ich muss doch los!

Erst als mir klar wird, dass ich mir bei so einer Aktion den Fuß brechen könnte und dann überhaupt nicht mehr an Radfahren zu denken ist, erst da beruhige ich mich. Vielleicht hat sich die Tür einfach nur verhakt?

Ich hebe sie etwas an, et voilá. Schleiche mich hinaus, wieder einmal vor dem Frühstück.

Sonst ist nicht viel übrig von diesem Tag.

Ein wundervolle Allee in der Morgenstimmung aus der Stadt hinaus.

Eine langgezogener Wolkenstrudel, von plötzlich aufkommenden Windböen einmal quer über den Himmel getrieben.

Einsame, schnurgerade Straßen, die sich hineinwinden in das Zentralmassiv, zwischen gepflegten Feldern hindurch, auf und ab. Eine so schöne Gegend, wenn man nicht immer wieder vom Gegenanstieg abgebremst würde. Rinn inne Welle 

Sitze irgendwann vor einem Super U auf dem Fahrradständer, trinke den üblichen Liter Trinkjoghurt, hab‘ sonst nichts gefunden. Appetit seit Tagen unberechenbar. Am Abend Gekauftes ekelt mich morgens schon wieder an: Wie um alles in der Welt soll ich unterwegs Baguette mit Chamois d’Or runterbringen? Keine Stunde später habe ich schon Heißhunger darauf. Wenigstens verkommt nichts.

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Stehe irgendwann vor ein paar Kühen, die sich unter einem Baum drängen, eine Einheimische kommt des Weges, erzählt was vom Wetter. Vermute ich, ich verstehe keine Wort. Ob ich Wasser für die Bidon brauche.

Ab und an ein holländisches Wohnmobil, und jedes Mal denke ich, jawoll, ich bin mit dem Rad hier!! Hab’ zwar keinen Campingstuhl dabei, nicht mal ein Badetuch, aber was soll’s. Europa ist klein!

Bin froh, dass ich nicht zeitig ankommen muss, weil eben Bekannte auf mich warten, Freunde meiner Eltern, und nicht ein Restaurant, das gnadenlos schließt.

Bin sehr müde.

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Bin erst am späten Nachmittag dort, wo es so richtig hochgeht. Finde keinen Ort mehr, wo ich Wasser bekomme, kehre um und fahre zurück zur letzten Bar. Die Dame tritt gerade auf die Straße. Mais oui, le bidon, immer her damit. Tout seule? Mais vous êtes courageuse! Wo ich denn noch hin wolle?

Nach Chossière.

Aber da kämen doch noch Berge!

Weiß ich.

Ist mir egal, wie viele Kilometer es noch sind. 30, oder 40. Dass es regnet. Dass ich noch mal einen Umweg fahren muss, weil ich der Komoot-spezifischen Steilhang-Abkürzung nicht traue. Bin bis hierher gekommen, der Rest geht irgendwie.

Noch mal die Beschreibung lesen, damit ich den Abzweig ja nicht verpasse, auch wenn Garmin und Komoot mich gemeinsam direkt hinleiten. Fotos von der herausragenden Aussicht. Und doofe Selfies.

Von unten sehe ich G. vorm Haus stehen und auf mich warten, wie mein Bruder vor zwei Tagen.

Ich bin zu müde zum Jubeln, habe ich unterwegs schon genug. Aber ich fahre diesen letzten Anstieg hoch, ich fahre das noch. Erster Abschnitt, 1.370 Kilometer. Erledigt.

Drei Tage bleibe ich, stopfe die Leckereien und die Geschichten aus der Umgebung in mich hinein, ruhe mich aus im Schatten hinter dem Haus. Eine ungewöhnliche Hitze herrscht hier oben auf 800 Metern.

Größte Attraktion des Dorfes ist gerade ein Hausschwein, das, vielleicht in Vorahnung der im Herbst bevorstehenden Schlachtung, ausbüchst, so oft es kann, um Blumenbeete niederzutrampeln und seinen schmuddeligen Körper überall zu reiben, wo es vorbeikommt. Besucher und Zugezogene sind nicht naiv genug, es retten zu wollen, aber wir haben die Kamera griffbereit. Ein Grunzen und Schnaufen in meinem Rücken ist das einzige, was mich am ersten Tag aus dem Liegestuhl holt.

Und der Hausherr, der mir ein Eis bringt. Meine wundervollen Gastgeber lassen es an gar nichts fehlen, aber ich komme mir nicht wie der beste Gast vor. Müde, hungrig, stumm. Wie auch das alles auf einmal in Worte fassen, nach tagelangen Selbstgesprächen?

Am zweiten Tag geht es besser. Am dritten sehe ich das Rad durch, schleiche um den Autoatlas herum. Nach Osten raus aus dem Zentralmassiv und rüber in die französischen Alpen soll es gehen. Bis Albertville sind es 280, dafür wollte ich mir zwei Tage Zeit nehmen, und am dritten den ersten richtigen Pass überqueren. Schon schiebe ich die Kilometer hin und her. Das könnte doch schneller gehen?

Als ich schließlich wieder unterwegs bin, fühlt sich das fremd an. Zum ersten Mal fahre ich in eine Gegend, wo nicht mehr eine Tagestour entfernt Familie oder Freunde sein werden. Zum ersten Mal seit drei Tagen bin ich auch wieder allein. Finde das plötzlich reichlich trostlos, Brioche hin oder her. In Frankreich, da muss ich eigentlich mit M. zusammen sein, so war das schon immer, jedes Detail erinnert mich daran.

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Um 11 Uhr halte ich es nicht mehr aus. Notanruf zuhause. M. versichert mir, dass in Berlin alles sei wie immer, kein Grund früher zurückzukehren, ich solle mal schön meine Tour genießen. Und ob da wohl mal ein richtiger Anstieg her müsse?

So getröstet fahre ich weiter, einmal mehr froh darüber, dass der Mann wenig gefühlsduselig ist, und bin doch seltsam träge. Es ist warm geworden, und irgendwie geht es auch schon wieder bergauf, wo ich doch die Berge gerade verlasse.

Mir fehlt Wasser, ich finde keinen Nachschub, so lange nicht, dass ich schließlich den Schildern zu einem Super U folge, der abseits der Strecke liegt. Genauer gesagt, unterhalb. Nehme die Windjacke mit hinein, Supermärkte sind in Frankreich stark klimatisiert, und wundere mich noch, dass ich sie nicht brauche.

Als ich wieder auf die Straße trete, knallt mir die Hitze wie eine Wand entgegen. Was, bei dem Wetter, ruft mir eine Frau zu, die mich zum Rad gehen sieht. Mais c’est courageux!

Im Schatten des Supermarkts fülle ich meine Flasche und mich mit Flüssigem ab. Tränke die Kappe mit kaltem Wasser. Der kleine Anstieg im prallen Sonnenlicht zurück zur Strecke, und das meiste davon ist verdunstet.

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Es geht also nochmals bergauf, bevor ich die Auvergne endgültig hinter mir lasse. In der Hitze des Mittags. Wie lange hält der Garmin das eigentlich aus? Als der 38 Grad anzeigt, schaue ich nicht mehr drauf.

Eine kleine Schlange windet sich blitzschnell vor mir über die Straße, hüpft fast ins gelb vertrocknete Dickicht.

Man könnte sich selbst den Arm ablecken, des Salzes wegen. Mache ich natürlich nicht.

Den Radcomputer habe ich plötzlich in der Hand, das Gummi hängt lasch und lose in zwei Stücken vom Lenker. Kein Wunder, die Hitze muss es durchgeschmort haben.

Ich überlege eine Weile, wie ich den wieder befestige. Kabelbinder nutzen nichts. Zahnseide, fällt mir ein. Schlau gepackt!

Aber nicht schlau auf die Karte geguckt. Es geht nach oben, wie lange denn noch. Die Richtung stimmt immerhin. Ich habe die Sonne leicht im Rücken, wenigstens kann ich dem Garmin so Schatten geben.

Der Ort Duerne, die Krönung dieses Anstiegs, scheint endlos entfernt. Als ich ihn erreiche, endlich ein Hauch von Bewegung in der Luft ist (Wind wäre eindeutig übertrieben), die Abfahrt vor mir, kann ich gar nicht fassen, dass ich schon wieder 800 Höhenmeter zusammen habe.

Quere einen Fluß (die Brévenne? die Garon?), der klar und kühl unter der Brücke entlang plätschert. Da unten im Schatten der Bäume sitzen, Beine im Wasser, diese ganze eklige Schicht aus Staub und Ausgeschwitztem los werden. Runterkühlen. Eigentlich hatte ich mir das auf dieser Tour so vorgestellt. Sogar den Bikini eingepackt.

Meine Freundin P. wird später in Bern viel schneller kapiert haben als ich, warum das auf dieser Reise keinen Platz hat.

Ich weiß nur, dass ich weiterfahre. Weiterfahren will.

Die Hitze werde ich erst los, als ich Château Gaillard in Corbelin erreiche, wo ich mich in meiner morgendlichen Einsamkeit eingemietet habe. Als die Banlieue von Lyon hinter mir liegt, verkehrsarm dank Samstag Nachmittag, und ein sehr schlechtes Fast Food Restaurant (Strawberry Sundae statt heißer Apfeltasche), als ich durch einen goldenen Spätnachmittag gefahren bin, mit Blick auf die Alpen, wunderschön.

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Die entzückende Gastgeberin des Anwesens steht mir gegenüber, Heckenschere in der Hand, und entschuldigt sich für ein paar Erdkrümel, die ihr weißes Sommerkleid zieren. Sie habe im jardin gearbeitet. Ich versuche, mich ebenfalls für meinen Aufzug zu entschuldigen, aber sie lässt es nicht gelten. Ich hätte ja Sport gemacht. Très courageuse. Mein Zimmer ist erfrischend wie ein Pool: Kühle, weiße Bettlaken, dunkles Holz, schattig hinter den Fensterläden.

Auch dass ich ohne Frühstück los will, lässt sie nicht gelten. Bereitet mir Kaffee in der Thermoskanne vor, zeigt mir, wo ich am Morgen Butter, Milch und kalten Orangensaft finde, und besteht darauf, dass ich mir ein Ei koche. Es ist doch von den eigenen Hühnern. “Il faut manger!”

Am Morgen füttere ich die Katze, ich habe Angst, dass sie sämtliche Gäste wach jault.

So früh ist es noch frisch in Corbelin, nach ein paar flachen Kilometern soll es zum ersten Mal auf 1.000 Meter hochgehen. Die Temperaturen sind deutlich gesunken, der Tag ist bedeckt, was mir nur recht ist, fühle ich mich doch noch geröstet von der gestrigen Hitze.

Es geht flugs voran, gemäßigte Prozente, eigentlich ganz sauber komme ich da hoch. Intervalltraining im Thüringer Wald (Tag 3) hat wohl angeschlagen. Col de l’Epine: 987 Meter. Am Nachmittag wartet der richtige Pass.

Oben überraschend kalt und ausgesetzt, Abfahrt nach Chambéry. Kaffee, Croissant, Brioche. Dann ein Supermarkt. Es ist Sonntag, Geschäfte haben womöglich nur vormittags offen. Alles beisammen. Auf nach Albertville!

Etwas unschön geht es auf der Route Nationale entlang der Isére, doch bald teilen sich die Wege, ich fahre auf einer kleinen Straße am Hang, halbwegs eben, Rückenwind.

Vor mir bauschen sich dicke Wolken zusammen. Hoffentlich hält das. Regen im Gebirge finde ich weniger spaßig.

In einem Städtchen bekomme ich Begleitung. Ein schwarzer Hund rennt zu mir auf die Straße. Ein, zweimal schon habe ich Hunde abwehren müssen, die aus offenen Höfen auf mich zu gejagt kamen. Dieser hier sieht weniger angriffs- als lauflustig aus. Er wetzt neben mir hier, heraushängende Zunge, die Zehen kratzen über den Asphalt, mit diesem typischen Geräusch. Kein Herrchen zu sehen.

Wir verlassen den Ort, der Hund auf dem Radweg, ich auf der Straße, ich will nicht so nahe rankommen, nicht dass wir uns verheddern. Ein, zwei Mal wechselt er auch die Spur, läuft quer vor mir. Ein Auto kommt uns entgegen, muss abbremsen, warten, bis wir vorbei sind. Ich mache entschuldigende Gesten. Ist gar nicht meiner! Aber der Hund will nicht von mir weichen. Wenigstens ist es nicht so befahren.

Irgendwann, nach zehn Kilometern, fünfzehn? scheint er dann doch die Lust zu verlieren, bleibt plötzlich zurück.

Albertville finde ich unerwartet hässlich, abgehalfterte Neubauten, ich bin froh, dass ich hier nicht übernachten muss. In einer Brasserie sitzt ein Haufen Männer mit mürrischen Gesichtern, der Kellner würdigt mich keines Blickes. Na gut, ein Stück Pizza vom Bäcker tut es auch. Und spart Zeit.

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Die brauche ich, 40 Kilometer sind es hoch zum Cormet de Roselend, fast 1.700 Höhenmeter.

Es geht sanft los, immer an der Doron entlang. Erst 20 Kilometer später, ab Beaufort, wo man schon ganze 400 Höhenmeter gesammelt hat, führt der Weg in Serpentinen an der Wand hoch. Runterschalten, durchatmen, noch schnell was essen und den Rhythmus finden.

Weißgelbe Meilensteine am Straßenrand zeigen an, wie viele Höhenmeter auf dem nächsten Kilometern zu erwarten sind, Tour de France sei Dank. 7%, 8%, 9%. Zweistellig wird es nie. Mit dem 28er-Ritzel und dem Gepäck reicht es mir auch so. Jeder Rennradfahrer, der mich überholt, tritt mit höherer Frequenz.

Außer die Reiseradler, die überhole ich. Aber die sind auch nochmal anders beladen.

Sie sind gar nicht so schlimm, diese Höhenmeter. Wenn man weiß, was man noch vor sich hat. Als die Bäume sich lichten, großartiger Blick zurück in die Tiefe, aus der man gerade kommt. Pause und Schokolade brauche ich sowieso. Doch wieder anstrengend gewesen bis hierher.

Auf 1.500 Metern der unglaublich türkisfarbene Lac de Roselend, die Wolken ziehen sehr pünktlich beiseite, darüber kann man den Durchstich schon fast erahnen.

Es ist dort, dass eine Gruppe französischer Wanderer meinen Weg kreuzt, sie halten an, klatschen, rufen “Bravo!” Ich lächle artig zurück, aber eigentlich muss ich die Tränen runter schlucken, weil ich es so rührend finde.

Oben: Anziehen, Fotos, eine Weile herumstehen, so mit dem Rad. Alles da, was ich brauche (außer geeigneten Lebewesen). Unfassbare Freiheit.

Abfahrt nach Bourg-Saint-Maurice. Fast ein bißchen gruselig finde ich die steil aufragenden, mächtigen Berge um mich herum, die so wenig Licht in die Täler lassen. Freue mich nach 3.500 Höhenmetern auf einen ruhigeren Tag.

Am späten Abend sehe ich im Netz, dass die Temperaturen kippen sollen. Fahre ich wie geplant weiter, werde ich spätestens übermorgen bei Regen oder gar Schnee im Hochgebirge festsitzen.

Und nu?

Hier geht’s weiter.

Touren auf Komoot:

Tag 8: St. Jean-de-Losne – Chossière, 222 km, 2.660 hm

Tage 9, 10, 11: Liegestuhl

Tag 12: Chossière – Corbelin, 195 km, 2.310 hm

Tag 13: Corbelin – Bourg-St.-Maurice, 165 km, 3.450 hm

Was bisher geschah:

Auf großer Fahrt, Teil 1: Deutschland

Auf großer Fahrt, Teil 2: Frankreich