Tag 14 beginnt mit dem falschen Pass und mit Gegenwind. Ich habe um 10 Uhr am Morgen schon Heißhunger, die Beine sind schlapp, und zu spät los bin ich auch. Willkommen in meinem Leben auf der Straße.

Eigentlich wollte ich nur kurz den Col d’Iseran hochrollen, ohne Gepäck (halber Ruhetag), dann weiter über den Kleinen und Großen Sankt Bernhard. Aber das Wetter soll drehen. Eilige Beratung mit dem Coach hat ergeben, dass es das Klügste ist, das Hochgebirge Richtung Chamonix zu verlassen. Nochmal über den Cormet de Roselend, wieder 3.000 Höhenmeter. Passt mir so gar nicht.

Aber der Cormet ist auch von Bourg-Saint-Maurice aus sehr schön. Plötzlicher Blick auf den Aiguille des Glaciers, wie gemalt liegt er vor dem blitzblauen Himmel. Und ich kenne jede Kurve aus der gestrigen Abfahrt, weiß genau, dass dort, wo es schon flacher wird, der Übergang noch nicht erreicht ist.

Ein Sandwich jambon cru, eigentlich für Mittags, verschlinge ich schon auf der Passhöhe. Kommt davon, wenn man am Abend nichts mehr isst. Dies ständige Essen, manchmal habe ich einfach keine Lust dazu.
 

Nochmal am türkisfarbenen Lac de Roselend entlang, wochentags alles sehr viel einsamer hier, und dann immer schön auf den Bremsen, die Serpentinen sind steil in den Hang gehauen (bin ich das gestern alles hochgefahren?).

Im Beaufort sehe ich die Rennradler im Petit Randonneur versammelt. Hier kehre ich ein! Träume seit Kilometern von Fritten zum Omelette.

Omelette und Fritten gibt es nicht. Sandwich jambon cru. Reicht damit dann auch. Der Supermarkt hat Mittagspause. Nur Wasser aus der Bar, immerhin ist es kalt.

Nächster Anstieg, es hilft ja alles nichts. Irgendwie muss ich da rüber. Kann ich meine tolle Moral am Berg beweisen. Viel Spaß damit.

Es geht ganz manierlich los. Die erste Stufe, dann auf gleichbleibender Höhe den Hang entlang, immer wieder im Schatten. Aber ich weiß, da muss noch was kommen.

Und so ist es. Sogar mit Zwischenabfahrt. Das schmerzt, man wird in so Momenten ja kniebig mit jedem Höhenmeter, den man im Kasten hat. Hoch zum Col de Saisies. Über einen Bergrücken schlängelt sich die Straße dahin. In der unerbittlichen Hitze des frühen Nachmittags.

Tritt für Tritt.

Alle paar Meter, wenn es irgendwo gluckert oder rauscht, springe ich vom Rad, halte die Kappe unter einen Brunnen (selten), oder unter Wasser, das in der Böschung plätschert, oder an irgendein Rinnsal, das sonstwie den Berg runterkommt. Ah, dieser kurze Moment des gekühlten Kopfes. Für ungefähr fünf Minuten. Wie lang soll das hier so gehen?

Der Blick nach vorn ist nur noch auf die nächste Kurve, auf das nächste Schild, die nächste Markierung gerichtet. Schaff’ es erstmal bis dorthin, dann sehen wir weiter.

Der Blick zurück auf die gegenüberliegenden Berge ist dafür großartig. Heidi-Land! So kaputt, aber das Herz springt einem fast aus der Brust bei diesem Anblick!

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Saisies, der Ort, der dem Col seinen Namen gibt (oder umgekehrt?): Irgendwann habe ich ihn erreicht. Touristenhort. Skiverleih, Radverleih, Fondue, nirgendwo ein klitzekleiner Supermarkt. Ich will meinen Trinkjoghurt! Nicht mal ein verdammtes Gipfelschild steht hier rum.

Aber Eis gibt es. Cassis zur Erfrischung, Haselnuss wegen der Energie. Sitze vor der Patisserie auf einer Stufe im Schatten, schütte viel Wasser hinterher.

Hinter dem Ort doch noch das Schild. Danach kann ich es wieder laufen lassen, in einer wunderbar rasanten Abfahrt. Und dazu taucht am blau gewienerten Himmel die wahnwitzige, schneegekrönte Kulisse der Aravis-Kette auf, optisch fortgesetzt von der Désert de Platé, die sich hinter dem Ort Passy auftürmt.

Gänsehaut! Ich jubele, ich singe (Biene Maja, singt sich irgendwie leichter als Heidi), zum ersten Mal ist mir völlig egal, ob das jemand hört (eine turnende Gruppe am Wegesrand. Kinder am Eingang eines Schwimmbads).

Was ein Panorama! Immer wieder muss ich in den nächsten Kilometern anhalten, kann man das nicht irgendwie doch fotografieren?, kurve in den Ortschaften Fürchterliches zusammen, Komoot will mich sogar über eine Wiese schicken.

An einer viel befahrenen Kreuzung entdecke ich ein Schild Rue Bernard Hinault. Die Franzosen haben ihre Freude, wie ich da zwischen den Autos herum hampele, um es zu fotografieren, hupen mich an und winken mir zu. Wie machen die das nur, dass das Hupen immer so freundlich klingt?

Schließlich bin ich unten, kreuze das Tal der Arve, scheußlich verbaut, wie gut dass ich weiterfahre, auch wenn es jetzt noch einmal den Gegenhang hoch geht, auf eine schöne, als Cycloroute ausgeschilderte Strecke oberhalb der viel befahrenen Bundesstraße, die wie eine Autobahn das Tal zerteilt. Rolle durch Dörfer, die schon wie Schweiz pur wirken.

Bin so schlecht voran gekommen, dass es allmählich spät wird, schaue alle paar Kilometer, welche Orte denn jetzt noch kommen. Kurz vor Chamonix muss ich runter auf die Bundesstraße, das Tal verengt sich. An der Auffahrt dann dieses Schild, weißes PKW-Piktogramm auf blauem Grund. Aber ein Autobahnschild sehe ich nirgendwo, eine anderen Weg ebenso wenig, also denke ich, die paar Kilometer hinab in die Stadt, das wird wohl gehen.

Die Straße ist erstaunlich ausgebaut, immerhin gibt es einen Seitenstreifen. Automatisch fahre ich schneller, als ein paar Autos an mir vorbei zischen. Das ist gar nicht so einfach, denn plötzlich geht es doch noch mal bergauf. Und weiter vorne, da ist jetzt auch ein Tunnel. Hm.

Ich denke noch, es wird wohl Zeit für die Warnweste und alle Lichter, die ich bei mir habe, da ertönt schon die Sirene hinter mir. Ein Wagen der Sécurite hält mich an, was ich hier täte, le vélo, c’est interdit!

Wo soll ich denn nun hin? Rechts die Felsen, links die sechsspurige Fahrbahn. Mein Hotel ist hinter dem Tunnel, ich muss dort lang, aber das ist interdit, wiederholt der Mann, und, wie mir in diesem Moment klar wird, ich kann auch einfach nicht mehr. Schon wieder kommen mir die Tränen.

Und er werde mich jetzt samt Rad ins Auto laden und durch den Tunnel fahren, höre ich ihn erzählen.

Kusshand! Ich liebe die Franzosen! Als er uns kurzerhand hinten in seinen Transportraum packt, in den schmalen Gang zwischen Werkzeug und Gerätschaften, stellt er noch fest, wie erstaunlich leicht das Jaegher sei. Ha! Gibt gleich noch mehr Kusshände zum Abschied.

Ich winke dem Wagen von der Securité zu, bis er am Horizont verschwindet.

Mein Hotel in Chamonix, eigentlich im unteren Preissegment, dennoch das kostspieligste auf der gesamten Reise, scheint zunächst ein Flop. Unfreundliche Rezeption (eine Stunde später ist der Rolladen unten!), brauner, ranziger Teppich im Treppenhaus, die Wände sehen aus wie nicht richtig verputzt. Aber dann öffne ich die Tür zu meinem Zimmer. Und vor mir der Gletscher, vom Bett aus zu sehen.

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Am nächsten Morgen ist der Gletscher verschwunden, es schüttet wie aus Kübeln, die Temperatur ist auf 12 Grad abgesunken. Zeit für einen Ruhetag in diesem malerischen, unglaublich touristischen Ort, auch wenn mir meine neue Freundin an der Rezeption das Zimmer keinen weiteren Tag überlassen will (“le mercredi, on est complet!” – “mais aujourd’hui, c’est mardi?” – ach so, ja dann…).

Sitze im Jonction Café, schreibe ein paar Postkarten, kann mich später nicht erinnern an wen. Esse Omelette mit Fritten und frage mich, wie es weitergehen soll.

Der gestrige Tag hat am Willen genagt. Oder die Müdigkeit, die seit dem Thüringer Wald nie ganz verschwunden ist, hat schließlich doch den Kopf eingeholt. Jedenfalls merke ich hier, nach 1.830 Kilometern, dass es gut ist, allmählich in Richtung Heimat zu denken.

Ob ich etwas früher eintreffen kann, schreibe ich an meinem Schweizer Stützpunkt, ich bräuchte nur ein Bett und ein paar Butterbrote. Ich sei jederzeit willkommen, und es gäbe Gnocchi Gorgonzola, kommt es zurück. Butterbrote seien bei Bedarf aber vorhanden.

Am nächsten Morgen ist die Luft unverändert kühl, aber zumindest ist es trocken. Transfer nach Bern scheint möglich.

Anders kann man diese Etappe nicht bezeichnen. Die ersten Kilometer hoch zum Col des Montets noch unter dramatischem Himmel, mit Blick zurück auf das eindrucksvolle Mont Blanc Massiv.

In der Abfahrt erreiche ich die schweizerische Grenze. Danach sofort sehr glatter Asphalt, aber auch eine etwas langweilig hingewalzte Straße hoch zum Col de Forclaz, und nur der immer noch frühe Morgen scheint für eine weitgehend autofreie Straße zu sorgen. Ich vermisse Frankreich vom letzten Pain au chocolat an.

Steil hinunter geht es nach Martigny, schade um die Höhenmeter. Reiseradler auf dieser Seite plötzlich in großen Mengen, wir winken uns zu. In Frankreich bin ich irgendwie nur Rennradfahrern begegnet, von den Jahren gestählte Waden, die eisern an der Kappe als Kopfbedeckung und Stahl zwischen den Beinen festhalten.

Im stark ausgebauten RhoneTal ist wieder Sommer. Sehr lange fahre ich auf einem Radweg den Fluß entlang. Manchmal am Zaun der Autobahn, aber den Weg habe ich für mich, immerhin.

Verheddere mich, als ich einen falschen Abzweig über einen Fußweg wieder gut machen will. Der wird zum Feldweg, zum Wanderpfad, und schließlich zwänge ich mich bergauf durchs Dickicht, überraschend gut gelaunt. Es ist einfach zu absurd, ich radle durch halb Europa, um dann hier das Jaegher über die Baumstämme zu heben.

Schließlich Montreux, der Genfersee bleibt unter mir zurück, den Hang hoch ins Hinterland und durch eine viel bebaute, wenig befahrene Gegend. Freue mich auf die vertrauten Gesichter. An einer Bushaltestelle esse ich meine Brote. M. hätte Spaß.

15 Kilometer vor Bern werde ich noch naß, aber da ist es egal.

Klingle an der Wohnung, werde aufgenommen und verschluckt von Fürsorglichkeit, Interesse, Familienleben. Von Freundschaft.

Zwei Tage wütet draußen der Regen, und ich überlege erneut. Ganz mag ich mich noch nicht von den Bergen verabschieden. Weiter südlich warten die Alpen. Susten, Klausen mitnehmen?

Auf über 2.000 Metern ist laut Netz Schnee gefallen. Dann eben eine Etage tiefer. Über Luzern und Schwyz zum Pragelpass, dann nach Glarus und über die “Vorder Höhi” (nie gehört!) Richtung Österreich.

Dieser lustig klingende Pass mit seinen gerade mal 1.536 Metern degradiere so manchen angesehenen klassischen Alpenpass zu einem komfortabel zu fahrenden Hügel, lese ich bei quaeldich.de. Schwierigkeitsgrad wie der Mont Ventoux. Aha.

Der Pragel wird mit dem Mortirolo verglichen und als erbarmungslos bezeichnet. “Dem Radler wird nichts und zwar gar nichts geschenkt. Wer den Pragelpass nicht fahren muss, sollte es lassen.”

Heißt im Umkehrschluss, wer es nicht lassen kann, muss ihn fahren! Ist ein bißchen wie mit der Kellertreppe im Horrorfilm. Man denkt noch, tu’s nicht! Aber man weiß ja, wie das immer ausgeht.

An einem Samstag bei 12 Grad breche ich wieder auf, verhangener Morgen, die Kinder haben den Wecker auf halb sechs gestellt, ganz lautlos komme ich nicht davon.

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Den Weg führt über das Emmental. Eine kleine Straße schlängelt sich über stolze Buckel, in den Schluchten hängt romantisch der Nebel. Die alten Höfe mit den weit überhängenden Dächern. Es ist die beste Gegend, es ist alles, was ich mir von dieser Reise nur wünschen kann. Überall könnte ich Fotos machen, wenn mir nur nicht so frisch wäre. Trotz Höhenmetern dauert es zwei Stunden, bis ich mich halbwegs warm gefahren habe, ein kurzer Stop wirft mich sofort zurück.

Ich habe Ovo Rocks (die Schweizer Schoko Crossies), die meine liebe Freundin besorgt hatte, ich habe Käsebrote, eine Banane. Ich muss nicht anhalten. Und ich habe noch ein bißchen was vor mir. Den Pragelpass werde ich erst nach 135 Kilometern erreichen. Bei Luzern ist mir endlich so warm, dass ich Windjacke und Beinlinge ausziehen kann, Blick auf den Vierwaldstätter See, die schönen Uferpromenade.

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Eine Coop-Tankstelle in Seewen erscheint in strategischer Entfernung vor dem Anstieg. Wasser, jetzt auch noch Ovo-Eis! und eine Toilette, von der man speisen könnte. Die ordentliche Schweiz verbietet irgendwie den Gang ins Gebüsch.

Dann Stalden, und vor mir die schmale, einspurige Wand. So sieht das wirklich aus, und sie endet nicht, sie verschwindet einfach im Wald. Runter-runter-runter schalten! Sechs Kilometer mit über 10 Prozent im Schnitt. Nicht absteigen ist der Plan.

Es ist einfach nur krass. Schweißtreibend, pulstreibend, und dabei so langsam, dass die Kilometer einfach nicht weniger werden. Hoffe, in diesen meditativen Zustand zu verfallen, in dem man nicht mehr weiß, dass man gerade fährt.

Gelingt aber nicht.

Stattdessen fange ich an zu zählen.

Ein-und-zwan-zig, zwei Kurbelumdrehungen. Zwei-und-zwan-zig, zwei Kurbelumdrehungen.

General Suworow floh im Zweiten Koalitionskrieg im Jahr 1799 mit einer Truppe von 20.000 Mann über den Pragel, hatte N. vorgelesen, nachdem wir alle noch nie von diesem Pass gehört hatten. Wie sollen die hier Platz gefunden haben? Unvorstellbar.

Es zieht sich endlos.

Irgendwann mitten drin fällt es mir auf. Pragel. Prügel! Kein Wunder. Wenigstens ist der Übergang am heutigen Samstag für motorisiertem Verkehr gesperrt.

Drei-und-vier-zig, vier-und-vier-zig.

Der Coach behauptet, ich hätte mal gesagt, man könne jeden Berg fahren. Behauptet er. Wüsste nicht, wann das gewesen sein soll.

Sieben-und-acht-zig.

Wieviel Meter bringt mich eine Kurbelumdrehung weiter, kann ich das nicht ausrechnen? Und mir so erschließen, wie weit ich noch zählen muss?

Neun-und-neun-zig. Schaue auf den Tacho, bin kaum weiter. Zähle von vorn.

Und so geht es weiter. Immer weiter. So steile Kurven, dass ich mich frage, ob ich das schaffe, rein technisch gesehen. Und dann wieder Stücke, die ein kleines bißchen flacher erscheinen. Zähle und zähle.

Und irgendwann haben sie dann eben doch ein Ende, diese sechs Kilometer. Oben sind es noch ein paar mehr, aber lange nicht so steil. Die Passhöhe liegt schön und still. Ich bin schon wieder so unfassbar glücklich.

Einsame, rasante Abfahrt. Ein Traktor lässt mich vorbei, der Klöntalersee mit dem dahinter aufragenden Glärnisch kommt in Sicht, ein Panorama, das man sich nicht im Traum ausdenken könnte. Diese Etappe gewinnt auf jeden Fall in der Kategorie Landschaftsdrama.

Die verbleibenden 300 Höhenmeter ins Sernftal, wo ich mich abseits meiner Strecke eingemietet habe, habe ich irgendwie verdrängt. Das Jägerstübli (Jaegherstübli!) ist ein bißchen Kaschemme, aber über das einzige Hotel direkt am Weg war zu lesen, der Wirt dort habe einen Gast verprügelt und aus dem Fenster geworden. Da schlafe ich bestimmt nicht.

Und die Spaghetti Bolognese sind ausgezeichnet. Diesmal esse ich so viel wie ich nur kann. Morgen wartet der Endgegner: das Vorder Höhi.

Hier geht’s weiter.

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Touren auf Komoot:

Tag 14: Bourg-Saint-Maurice – Chamonix, 112 km, 2.960 hm (auch die wichtigen 5 km am Ende!

Tag 15: Frau, die auf Gletscher starrt

Tag 16: Chamonix – Bern, 185 km, 2.490 hm

Tage 17 und 18: Neue Pläne

Tag 19: Bern – Matt, 182 km, 3.150 km

Was bisher geschah:

Auf großer Fahrt, Teil 1: Deutschland

Auf großer Fahrt, Teil 2: Frankreich

Auf großer Fahrt, Teil 3: Vom Massif Central in die Alpen